Eine Umarmung regelt alles
Ein Vorwort von Stefanie Jaksch
Maureen Reitinger und ich kennen uns noch gar nicht so lange. Auf diversen sozialen Plattformen folgten wir uns zwar gegenseitig schon seit einigen Jahren und schätzten uns aus der Ferne. Aber in Person standen wir erst im Frühjahr 2025 bei einer Buchpremiere voreinander. “Darf ich dich umarmen?”, war die entwaffnende erste Frage, die Maureen stellte – und seitdem haben wir uns im Grunde nicht mehr losgelassen. Was klar ist: Maureen Reitinger ist ganz Herz, stark, unerbittlich, witzig, nachdenklich. Und hat ein untrügliches Gespür für Worte. Dass ihr Text “Der Zauberer und der Heilige Geist” Teil von STRUDEL sein muss, war mir sofort klar. Umso schöner für uns, dass wir dieses Format mit ihr gemeinsam aus der Taufe heben. “Maureen, wir sind für immer verbunden!”
Illustration S.R. Ayers
(Oder: Wie ich sie langsam verliere, während ich selbst brenne.)
Ich sitze da. In ihrem Wohnzimmer.
Sie kommt aus der Küche, als würde sie einer roten Linie folgen, die nur sie sehen kann – einer roten Linie, die brüchig wird. Wie ihr Bick.
Sie: „Hast du meinen Suppentopf?“
Ich: „Warum sollte ich deinen Suppentopf haben?“
Sie: „Na, wer hat ihn dann?“
Ich: „Keine Ahnung.“
Sie: „Na dann hat ihn der Zauberer verzaubert.“
Der Zauberer betritt die Bühne, der allmächtige Herrscher ihres Universums. Er, der alles stiehlt und wieder zurücklegt, ohne jemals Einblicke zu gewähren in seine perfiden Machenschaften. Mein inneres Auge rollt sich bis zum Anschlag ein. Ich spüre, wie es langsam zu brodeln beginnt in mir und ich leise implodiere. Wie so oft in letzter Zeit. Ich hasse es, wenn sie vom Zauberer spricht. Sofort fühle ich mich mit meinen sechsundvierzig Jahren wieder wie eine hilflose Neunjährige. Ich sitze nicht mehr als Erwachsene in ihrem Wohnzimmer, sondern als machtloses, verzweifeltes Kind, das sich in die Ecke gedrängt fühlt und der Lüge beschuldigt wird, während sie und ihr Zauberer eine Welt kreieren, die nichts mit mir zu tun hat.
Sie war schon immer einfallsreich, was wenn es darum ging, zu ihrer Rechtfertigung Allianzen mit höheren Instanzen zu schmieden. Wenn der Zauberer nicht anwesend war, dann war es eben der Heilige Geist. Eine Ausrede für alles, was nicht zu erklären war in ihrer Welt. Wenn sie etwas nicht finden konnte oder etwas passierte, woran sie bestimmt nicht beteiligt war. Der Heilige Geist – diese unschlagbare Allzweck-Ausrede. Göttlich abgesegnet. Unverhandelbar. Wenn der Heilige Geist etwas getan hat, dann kannst du reden, erklären, protestieren – es hat keinen Sinn. Der Heilige Geist ist Endstation mit göttlichem Understatement.
Dann bist du schuldig.
Aber heute spüre ich, wie sich etwas verschiebt in mir. Denn nicht nur der Suppentopf ist verschwunden. Sondern auch sie verschwindet. Langsam. Stück für Stück. Und mit jeder kleinen Lücke, jedem seltsamen Satz, jedem verzögerten Blick zieht sie sich ein kleines Stück weiter zurück in diesen Nebel, der nicht nur ein schlechter Tag ist. Sondern eine Krankheit. Die nicht beim Geschirr aufhört. Sondern irgendwann bei mir. Bei uns.
Sie vergisst. Immer öfter. Immer schneller. Und ich? Ich erinnere mich für zwei. Ich halte fest, was sie verliert. Ich merke mir, wo ihre Sachen sind, welches Datum wir haben, welche Medikamente sie braucht, was im Kühlschrank fehlt, was sie gerade gesagt hat, und kümmere mich auch um alles andere.
Ich bin ihre Festplatte. Ihre Landkarte. Ihre Gegenwart.
Währenddessen brenne ich innerlich.
Ich habe PMS. Damit kenne ich mich aus. Ich bin auf Krawall gebürstet, auf Streit. Ich will streiten. Ich will mit ihr streiten. Und irgendwie könnte das auch das Ziel sein, bevor der erste Tropfen Blut mich wieder in den Frieden mit mir selbst, dem Zauberer und ihr zurückbringt.
Aber ich weiß, dass dieser Streit nur mir weh tun wird. So ist das eben mit dem Kurzzeitgedächtnis oder dem Nicht-mehr-Funktionieren von diesem. Kurzzeit. Wer kann schon definieren, wie kurz „kurz“ ist? Manchmal sind es Minuten, manchmal Stunden, selten Tage.
Ich brenne, es ist nicht nur PMS, ich bin in der Perimenopause. Bis vor Kurzem wusste ich nicht mal, dass es den Zustand der Perimenopause gibt. Und ehrlich: Ich will’s eigentlich auch nicht wissen.
Perimenopause klingt nach einer furchtbaren Mitgliedschaft, die du nicht kündigen kannst. Als Menstruierende musst du beitreten, ob du willst oder nicht. Du bekommst die Einladung, um die du nicht gebeten hast und die du auch nicht ausschlagen kannst. Willkommen in einer Übergangszone, als die natürliche Fortsetzung einer „Menschlichkeit“. Du kannst dich nicht wehren. Du musst da durch. Willkommen in einem (scheiß) Club, in dem alle rumbrüllen: „Du bist nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt genug!“
Die Zeit rast zwischen Adoleszenz und Exitus und ich habe plötzlich die Zeilen von Richard O’Briens Lied „The Time Warp“ aus der Rocky Horror Picture Show mietfrei auf Endlosschleife im Kopf laufen: „Time is fleeting, madness takes its toll.“ Wie wahr: „Der Wahnsinn fordert seinen Tribut!“
Dieser Wahnsinn fühlt sich an wie ein innerer Schleudergang ohne Pause – Reizbarkeit, Tränenausbrüche, irrationale Wut, das Gefühl, als würde mein Nervensystem permanent unter Strom stehen.
Ich bin nicht mehr ich. Oder vielleicht bin ich plötzlich zu viel von mir.
Wie ein schlecht geschnittener Film, in dem meine Emotionen Regie führen – unberechenbar, überdreht, ohne Pointe.
Und dann soll ich noch funktionieren. Pflegen. Lieben. Sanft bleiben. Die Starke sein.
Der Druck, konstant zu funktionieren, ist fast so stark wie der Fluss von Hormonen, der mich immer wieder mitreißt, unter Wasser zieht, um mich dann kurz wieder an die Oberfläche zu katapultieren, damit ich schnell Luft schnappen kann, bevor ich ersticke, bevor ich ertrinke.
In diesem „Peri-Ding“ steckt so viel Nichtwissen, verstecken sich so viele Fragen, die unbeantwortet bleiben. Warum ist keine von uns wirklich vorbereitet auf diesen Übergang? Warum gibt es keine Anleitungen, keine vernünftigen Studien, keine für alle verfügbare Selbsthilfe für all das?
Ich will oft schreien. Vor Wut, vor Trauer, vor Ohnmacht. Ich will schreien, weil niemand je mit mir über diesen Lebensabschnitt gesprochen hat. Nicht in der Schule, nicht beim Arzt, nicht in Frauenzeitschriften. Als würde ich als Mittvierzigerin aufhören, ein Mensch zu sein.
Dabei sind wir mitten in einem Umbruch. Einer echten Transformation. Und niemand schaut hin. Denn wer will schon hören, dass vier Milliarden Menstruierende durch eine hormonelle Hölle gehen, die kaum erforscht ist, bevor sie aufhören, im Zyklusrhythmus zu bluten? Dass es fünfmal mehr Studien zur erektilen Dysfunktion gibt als zum prämenstruellen Syndrom oder eben der Perimenopause? Dass wir uns durch Irrsinn, Bluten, Schwitzen, Schlaflosigkeit und Krämpfe kämpfen, während der Rest der Welt sagt: „Probier’s mal mit Safran.“
(Wenn Männer Hitzewallungen hätten, gäb’s längst hitzefeste Anzüge, Spezialkuren und Apps, die bei der ersten Schweißperle den Notarzt rufen.)
Und dann dieser Algorithmus, der glaubt, mich zu kennen. Der mir auf Instagram Nahrungsergänzungsmittel in den Feed spült. Ashwagandha gegen Wut, Magnesium gegen Weinen, Mönchspfeffer gegen Realität. Alle mit einem hübschen Label drauf, möglichst bio, möglichst weiblich, möglichst rosa, fein säuberlich in hübsche Glasflaschen abgepackt. Für hormonelle Balance. Währenddessen werde ich von einem ständigen Gefühl des Zerrissenwerdens und dieser hormonellen Imbalance begleitet, als würde der Zauberer nicht nur den Suppentopf stehlen, sondern auch die letzten Reste meiner Geduld.
Und sie – die Frau, die mich großgezogen hat – sie geht. Langsam. Unaufhaltsam. Und niemand sagt mir, wann, wohin und wie.
Während mein Körper wie eine brennende Fabrik vibriert, soll ich Abwarten und Tee trinken, dabei das Lächeln nicht vergessen. Nur noch Funktion. Pflege. Nervenstärke.
Sie: „Ah! Ich hab ihn! Er ist im Geschirrspüler!“
Ich sage nichts. Ich schaue sie an. Und obwohl ich kurz lachen könnte, kommt nichts. Weil ich spüre, wie nah das alles ist. Wie schmal der Grat. Zwischen dem Zauberer, dem Heiligen Geist und dem Vergessen. Zwischen PMS, Perimenopause und völligem Zusammenbruch. Zwischen ihr, wie sie war – und ihr, wie sie wird.
Ich will aufstehen. Ich will gehen. Ich tu’s nicht.
Ich bleibe.
Ich bleibe, weil ich weiß, dass sie geht.
Und ich weiß nicht, wie lang ich noch mit ihr bin, bevor das magische göttliche Duo, der Zauberer und der Heilige Geist, sie ganz holen.
Aber solange sie noch da ist, auch nur für einen Moment, bleibe ich.
Denn wenn wir Frauen verschwinden – dann oftmals ganz leise.
Maureen Reitinger wird 1979 in Wien geboren, sie lebt und arbeitet in Wien und Niederösterreich. HTL-Abschluss in Betriebsmanagement & Produktionstechnik. Jahrelange ehrenamtliche Tätigkeiten bei Caritas und VinziPort aus dem tiefen Bedürfnis heraus, ein Mensch zu sein. Feministin, Aktivistin, Suchende, Reisende, Mutter, Nonna und seit kurzem Autorin. Maureen Reitinger hegt eine große Leidenschaft für das Verbindende und nicht das Trennende, für Menschen, Kunst & Kultur, Bücher, Kommunikation und Umarmungen. Aktuell absolviert sie das Psychotherapeutische Propädeutikum. 2025 erschien ihr erstes Buch “Mut” in der übermorgen-Reihe bei Kremayr & Scheriau.